Als ich meinen Helden traf
Tränen strömen über mein Gesicht. Weg. Nur weg hier. Achtlos schlage ich jede Tür hinter mir zu, die ich greifen kann, und renne nach draußen. Ich umfasse meinen Kopf, aber es hört nicht auf. Ihre Stimmen jagen mich, ihre vorwurfsvollen, verletzenden Stimmen.
„Gib nicht auf“, flüstert mir jemand zu. „Ich weiß, dass du stark bist.“ Für einen kurzen Augenblick bleibe ich stehen. Ein Mann geht an mir vorbei. In der Ferne ertönt Musik. Als ich wieder blinzele, ist er da. Mein Held.
Die Sonne ist bereits untergegangen und hat Platz geschaffen für den Mond, der das dunkle Firmament erleuchtet, doch meine Augen können die Schönheit nicht erfassen. Überall sehe ich nur viel zu schnelle Autos, graue, sich wiederholende Fassaden, elende Leere, kalte Abweisung. Mein Kopf dröhnt vor Anfeindungen und Streit, denen ich so oft ausgesetzt bin. Wo sind sie nur, die Helden, die uns davor bewahren?
„Ich bin bei dir.“
Auf der anderen Straßenseite erhebt sich ein verfallener Zaun. Die Reste einer Plastiktüte hängen an einem seiner Drähte und tanzen im Wind. Ich höre Stimmen hinter mir, weshalb ich ohne zu überlegen zum Zaun eile und mich durch eine undichte Stelle zwänge. Sobald ich auf der anderen Seite angekommen bin und den Kopf aufrichte, erblicke ich eine dunkle Gestalt. Mein Herz beginnt rasant zu schlagen. Es ist nur ein Strauch, sage ich und schüttele den Schreck von mir ab. Noch immer jagen mich ihre Stimmen. Wie Schatten ihrer selbst stehen sie vor mir, lachen und hören nur auf ihre eigene Meinung. Höhnisch verspotten sie mich, nennen mich Träumer, Schwärmer und Fantast. Helden? So etwas gibt es doch nur in Filmen. Mit Superkräften und starken Waffen. Das echte Leben kennt keine Helden, wir sind schwach, zerbrechlich und hüten unsere dunklen Geheimnisse. Kritisch beäugen sie mich und versuchen, mit deutenden Fingern die Glut in mir zu schüren.
„Lass dich nicht von ihnen beeinflussen“, sagt jemand. Ich seufze. Wenn es doch nur immer so einfach wäre. Dann balle ich die Fäuste und laufe davon.
Irgendwo stehen sie, suchen womöglich nach mir, aber jetzt will ich nicht an sie denken. Ich laufe über die Wiese, die der Zaun vom Wohngebiet abschirmt, und streife durch das hohe Gras. So manches Tier, das sich schon zum Schlaf gebettet hat, schrecke ich auf. Wer sind eure Helden?, frage ich mich. Wer beschützt euch, wenn ihr in Not seid? Ich erhalten keine Antwort.
So schlecht meine Augen in der Finsternis sind, so geschärft sind meine anderen Sinne. Ich rieche das frische Heu, das in Ballen auf den Feldern liegt, fühle den Wind, der in lauwarmen Luftzügen um meinen Körper weht, schmecke die Sommernacht auf meiner Zunge. Kein Anzeichen von Unruhe, das mich stören könnte. Unweigerlich denke ich immer wieder an ihre Worte. Warum sollten Helden nur in Comics oder Filmen existieren? Wer bestimmt, ob wir Helden sind oder nicht? Und wenn wir selbst dafür sorgen, alles Schlechte auszumerzen, ja es nicht erst zuzulassen, brauchen wir sie dann überhaupt noch?
An einem verfallenen Soldatenfriedhof komme ich zum Stehen. Rundherum ist er so dicht von wild verwachsenen Ästen verhüllt, dass ich kaum auf das weite, verlassene Areal blicken kann. Dutzende Männer, die ihr Leben im Krieg lassen mussten, haben dort ihre letzte Ruhe gefunden. Auch sie waren einmal Helden. Helden, deren Namen längst verblasst sind. Ein eisiger Hauch trifft direkt in mein Herz.
Ich steige einen Hügel hinauf und lege mich ins Gras, wo mich das Zirpen der Grillen empfängt. In der Finsternis vermag ich nur vereinzelt Umrisse zu erkennen, erst in der Ferne, dort, wo der Zaun sich erhebt und das künstliche Licht den Weg weist, ist die Umgebung deutlicher zu sehen. Dort, wo es die Superhelden nur in Filmen gibt. Wo Lug und Betrug den Alltag beherrschen. Wo Häuser brennen und Menschen ihre Waffen aufeinander richten. Wo ich am liebsten nicht mehr sein würde.
„Alles wird wieder gut.“
Plötzlich stehst Du vor mir. Du, mit den hellen Locken und der großen Statur. Ich bin ohneBegleitung an diesen Ort gekommen und bin doch nicht allein. Du bist bei mir und streckst die Hand nach mir aus. Du, mein persönlicher Held, den ich so sehr schätze, den ich verehre, und der auf diese Weise doch nur in meinem Kopf existiert. Trotzdem treffe ich dich hier an diesem Ort, den ich aufsuche, um dem Schmerz zu entfliehen. Gedanken. Ein Lächeln. Blaue Augen, die mich besorgt ansehen. Erinnerungen. Vorstellungen. Weise Worte, die mir sagen, dass wir nicht verzweifeln dürfen. Wie oft bist Du bei mir, damit ich nicht zugrunde gehe an der Ablehnung, die dort draußen in den Städten toben. Du, der mich ermutigt, zurückzugehen und nicht aufzugeben.
„Helden gibt es überall“, sagst Du. „Schau dich nur um – nur nicht nach oben, denn fliegen können sie in dieser Welt meistens nicht.“
Ich lache, das erste Mal seit vielen Stunden, und gehe mit dir an meiner Seite zurück, bis der Zaun in mein Sichtfeld rückt.
„Man braucht keine Explosionen und keine übernatürlichen Fähigkeiten, ja nicht einmal Waffen, um ein Held zu sein“, sage ich und bilde mir ein, dass Du lächelst. Ich lasse dich los, blinzele und Du verschwindest.
Gedankenverloren starre ich auf den Zaun, an dem noch immer die Plastiktüte hängt. Auf einmal vernehme ich das Quietschen von Reifen ganz in meiner Nähe. Erst dann bemerke ich, dass ich fast auf der Fahrbahn stehe.
„Kommen Sie!“ Ein kleiner Junge ergreift meinen Arm und führt mich sicher über die Straße. Das Logo von Batman ziert sein T-Shirt. Ich lächele.