Leo Tolstoi: “Anna Karenina” – Zwischen Affären, Eifersucht und Verzweiflung
Heute schreibe ich über ein Buch, über das ich zunächst gestehen muss, dass ich es bereits seit mindestens einem Jahr besitze und mich trotzdem nie an es herangewagt habe. Dies lag vor allem daran, dass dieses Buch fast 1000 Seiten umfasst und die vielen dünnen Seiten mit der kleinen Schrift mich abgeschreckt haben. Da ich Bücher gerne am Stück lese, habe ich es immer weiter von mir weggeschoben, was dank des stetigen Buchnachschubs auch gut funktioniert hat. Bis jetzt. In knapp drei Monaten Semesterferien musste es doch zu machen sein, auch dieses Buch zu knacken! Und es ging. Ich habe mir die 1000 Seiten von Anna Karenina jeweils in Häppchen von 100 Seiten aufgeteilt und jeden Tag eines dieser „Häppchen“ abgearbeitet. Wirkliche Arbeit war es jedoch nicht, denn erstaunlicherweise hat mir das Buch besonders zu Beginn viel Vergnügen bereit.
Allgemeines
Anna Karenina wurde von Leo Tolstoi geschrieben und ursprünglich 1878 veröffentlicht. Die Ausgabe, die ich gelesen habe, wurde 2010 von Anaconda herausgegeben. Sie verwendet die Übersetzung von Hermann Röhl.
Handlung
Die Handlung von Tolstois Werk zusammenzufassen ist bei der Art der Erzählung und der Fülle an Namen kaum möglich, deshalb beschränke ich mich hauptsächlich auf den Erzählstrang, der sich mit der Titelfigur beschäftigt. Das Buch spielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Adelskreisen Russlands, hauptsächlich in Moskau und St. Petersburg. Bei einem Besuch ihres Bruders Stephan Arkadjewitsch Oblonski in Moskau verliebt sich Anna Karenina in den jungen Grafen Alexei Wronski. Auf diesen hat sich bereits Kitty, die Schwester von Stephans Frau Dolly, Hoffnungen gemacht und weist deshalb den Heiratsantrag Ljewins, ein alter Bekannter und Freund Stephans, zurück. Wronski hingegen hat keinerlei Ambitionen auf Kitty und verliebt sich ebenfalls in Anna. Sobald beide wieder in ihrem Wohnort St. Petersburg angekommen sind, beginnen sie eine Affäre, von der bald ihr gesamtes Umfeld erfährt. Auch Annas Mann Karenin, ein hoher Beamter und zwanzig Jahre älter als sie, hört davon, will den Gerüchten jedoch keinen Glauben schenken, bis Anna ihm die Affäre gesteht. Karenin behandelt sie nach ihrem Geständnis nur noch mit Abscheu und möchte die Scheidung. Erst als Anna nach der Geburt ihrer Tochter im Sterben zu liegt, zeigt Karenin Reue und versöhnt sich auch mit Wronski, der nur knapp einen Selbstmordversuch überlebt hat. Unerwartet erholt sich Anna wieder, die von ihrem Mann die Erlaubnis erhält, sich mit Wronski zu treffen, woraufhin die beiden zusammenziehen. Die Scheidung lehnt Anna zuerst ab. Wronski und Anna leben ab da gemeinsam ihr Leben, in dem es immer häufiger wegen unterschiedlicher Einstellungen zu Streitereien kommt. Von tiefer Verzweiflung vereinnahmt, wirft sich Anna schließlich vor einen Zug. Wronski, seines Lebens überdrüssig, willigt daraufhin ein, in den Krieg nach Serbien zu ziehen. Kitty und Ljewin haben inzwischen geheiratet und ein Kind bekommen.
Eigenarten des Romans
Um es runterzubrechen, könnte man sagen: Anna verliebt sich in Wronski, der von Kitty geliebt wird, die von Ljewin geliebt wird. Aber so einfach ist es nicht. Tolstoi war ein Autor des Realismus, dem es darauf ankam, detailliert die einzelnen Personen, deren alltägliches Leben und ihre Meinungen zu schildern. Dazu gehört eben auch, dass manche Handlungbescheibungen nur der präzisen Beschreibungskunst des Realismus geschuldet sind, aber ansonsten nicht weiter von Belang sind.
Wenn man die Romane von Theodor Fontane kennt, der ebenfalls dieser Epoche zugehörig ist, wird man einige Gemeinsamkeiten feststellen. Die Handlung bei beiden Autoren spielt sich in der Oberschicht ab, in der der Adel Dinners gibt, seine Bildung zur Schau stellt (bei Tolstoi wird abwechselnd Russisch, Französisch und Englisch geredet) und über Belanglosigkeiten plaudert. Jede Figur übertrumpft in ihrer Beschreibung die andere mit den besten Adjektiven, die es nur gibt.
Annas Story wirkt sogar teilweise wie eine russische Version von Fontanes Effi Briest: Anna ist mit einem zwanzig Jahre älteren Beamten verheiratet, dem allerdings mehr an seinem Job und dem äußeren Schein eines intakten familiären Glücks interessiert gelegen ist, als an tatsächlicher Liebe (Innstetten!). Als Anna den aufstrebenden Wronski kennenlernt, sprengt sie diese Banden und geht eine Affäre mit ihm ein (Major von Crampas!). In beiden Romanen werden die Protagonistinnen am Ende unglücklich und sterben.
Genauso gibt es auch gravierende Unterschiede. Der größte davon ist, dass Effis Affäre geheim ist und auch nur eine Affäre bleibt. Die Probleme, mit denen Anna und Wronski – die es wenig interessiert, dass ihre Beziehung publik wird – in ihrem gemeinsamen Leben zu kämpfen haben, kommen bei Effi erst gar nicht auf.
Charakteristisch ist für das Buch daher eben auch, dass nicht nur Annas Geschichte erzählt wird (denn sonst wäre das Buch sehr viel dünner), sondern die Handlung aus Sicht eines personalen Erzählers dargelegt wird, der innerhalb eines Buches immer wieder zwischen den Personen schwankt. Ein Kapitel (von dem es außer im letzten der acht Teile über 30 gibt) hält den Fokus auf einer Person und dessen Umfeld, kann aber nach diesem jederzeit auf eine andere umschalten. Tolstoi hat dies bewusst an sehr spannenden Stellen gemacht und dadurch Cliffhanger erzeugt. Wenn Karenin beispielsweise von der Affäre erfährt und danach dreißig Seiten lang nur Gespräche über die Situation der Bauern in Russland folgen, kann man als Leser nicht abwarten, wie es weitergeht. Zu Beginn befinden sich alle wichtigen Figuren in Moskau, erst nachdem sich Anna und Wronski verliebt haben, geht jeder seinen Weg, sodass dieses Umschalten dann sehr deutlich wird. Auf diese Weise erlebt man die Welt aus verschiedenen Perspektiven.
Generell ist es häufig so, dass langatmige Stellen von spannenden abgelöst werden. Beispielsweise ist Ljewin einmal mit Oblonski und einem Bekannten auf der Jagd im Wald. Ljewin ist eifersüchtig auf den Bekannten, der zuvor mit seiner Frau Kitty geflirtet hat. Im gesamten Kapitel erwartet man, dass es etwas passiert und das nur aufgrund kleiner Anmerkungen, wie etwa, dass Kitty gesagt hat, dass sie sich nicht totschießen sollen oder, dass Ljewin die Waffe des Bekannten im Auge behält, nachdem dieser einmal danebengeschossen hat. Tatsächlich passiert gar nichts Spannendes, trotzdem verfolgt man mit wachen Augen das Geschehen.
Leider hat Tolstoi besonders zu Beginn die Angewohnheit, eine solche Spannung direkt auch wieder aufzulösen. Am Anfang weiß man nicht, wie Wronski wirklich gegenüber Kitty fühlt, als Leser ist man sogar eher geneigt zu glauben, dass er ihre Gefühle erwidert, eben weil man ihn nur aus fremder Perspektive betrachten kann. Die Perspektive nimmt in diesem Fall Ljewin ein, der in Wronski einen Konkurrenten sieht, weshalb er auch beim Leser das Gefühl erzeugt, dass er selbst keine Chance hat. Im Anschluss an das Dinner folgt ein Gespräch, in dem Kittys Vater als erste Person überhaupt Bedenken an Wronski aufkommen lässt – zwei Seiten später springt der Erzähler in Wronskis Sicht und offenbart damit auch, dass er nie Heiratsansichten gehegt hat und generell eher ein Freund des „ungebundenen“ Lebens ist. Ähnliches zuvor, als Ljewin Kitty aufsucht, deren Absichten in Bezug auf Wronski man ebenfalls wenig später erfährt.
Ein wenig schade fand ich, wie die Beziehung Anna und Wronski aufgebaut wurde. Bereits bei dem ersten Treffen finden beide Gefallen zueinander. Später bei einem Dinner sowie beim Ball gibt es einige sehr schöne Szenen, die die heimlichen Gefühle der beiden verdeutlichen. Leider lässt Tolstoi seine anderen Figuren allzu schnell die Liebe erahnen, es wird zu offensichtlich und das Knistern verschwindet. Ich hätte mir gewünscht, dass dieser Vorgang etwas länger dauert. Dafür zieht sich dann die Affäre und das Leiden der beiden etwas länger hin.
Figuren
Bei ihrem ersten Auftreten war mir Anna sehr sympathisch und auch auf die Figuren im Buch macht sie einen angenehmen Eindruck. Als Kitty am Ball zu Beginn der Geschichte nur kurz mit Wronski tanzt und dieser sich dann Anna zuwendet, habe ich mich für Anna gefreut, vermutlich auch, weil ich Kitty und deren Mutter – die nur darauf bedacht war, die Tochter schnell zu verheiraten – nicht mochte.
Im Laufe des Buches wurde sie mir jedoch immer unsympathischer (und auch für die Figuren ist sie am Ende nur noch eine bemitleidenswerte Frau), weil sie hartherzig und kompromisslos gegenüber Wronski auftritt. Am Ende driftet sie immer tiefer in die Verzweiflung, weil sie fest überzeugt ist, Wronski sie nicht mehr liebt und bereits andere Frauen hat. Tatsächlich ist keiner ihrer Zweifel berechtigt. Für Wronski ist Anna – trotz seines bisherigen Lebensstils – die große Liebe, für die er alle Chancen auf den beruflichen Aufstieg und schließlich seine Militärkarriere vollständig aufgibt. Dass seine Mutter gegen die Beziehung ist, kümmert ihn nicht (-> anders als beispielsweise Botho in Fontanes “Irrungen, Wirrungen”); dass er wegen Anna die adlige Gesellschaft weitgehend meiden muss ebensowenig. Auch Anna gibt alles für ihn hin. Als Gegenleistung verlangt sie allerdings seine Liebe und ungeteilte Aufmerksamkeit, was Wronski mit seiner Unabhängigkeit nicht vereinbaren kann.
Sobald sich die zwei ohne Hindernisse haben können, verschwinden das Knistern, die Bemühungen und die Freude, den anderen heimlich zu sehen. Immer öfter langweilt sich das Paar, besonders eben Wronski, der seine Freiheit wahren und beispielsweise in Klubs gehen möchte. Anna will ihn jedoch nicht gehen lassen, denn in ihren Augen bleibt ihr nur seine Liebe. Da er ihren Willen nicht erfüllt, kommt es immer öfter zu Streitereien und irrigen Wahnvorstellungen bei Anna. Ihr Tod soll vor allem eine Rache an Wronski für seine schwindende Liebe sein, worin sie im Übrigen ihrem Ehemann sehr ähnlich ist. Als Karenin von der Affäre erfährt, trauert er nicht um sie oder überlegt gar, was er falsch gemacht haben könnte, sondern schiebt die gesamte Schuld auf Anna. Ihn selbst interessiert nur, wie er möglichst ohne Schaden „aus der Affäre“ kommt und Rache an ihr nehmen kann (und zwar, indem er ihr den gemeinsamen Sohn Sergei wegnimmt). Während ihrer Krankheit hat er kurzfristig Mitleid mit ihr, verzeiht Wronski und willigt in die Scheidung ein, die Anna zu diesem Zeitpunkt aber nicht will. Monate später hat sich seine Meinung wieder geändert. Nach ihrem Tod verbleibt er als der eigentliche Gewinner: Die ehebrecherische Frau ist tot, er hat die Möglichkeit, sich neu zu vermählen und das Sorgerecht über Sergei und die Tochter von Wronski und Anna.
Erstaunlicherweise bleibt die dargestellte Welt weitestgehend frei von Intrigen. Jede Figur ist für ihr eigenes Handeln verantwortlich. Umso tragischer ist es, dass Anna sich letzlich in den Selbstmord stürzt. Als Leser möchte man sie am liebsten schütteln und ihr ihre Fehler zurufen. Siehst du nicht, dass Wronski nur dich will, sich sogar umbringt, wenn er dich nicht haben kann? Dass du alles hast, was du willst? Natürlich hat man als Leser einen anderen Blick als die Figuren und natürlich ist es verständlich, dass Anna Angst hat, ihn zu verlieren – aber gehört es zu einer Beziehung nicht dazu, dass man einander vertraut und nicht jeden Schritt kontrolliert? Zwar steht dem gemeinsamen Glück die nicht bewilligte Scheidung im Weg, aber ich bin mir sicher, ohne ihre ständigen Einschränkungsversuche über Wronski und ihren Zweifel wären die beiden glücklich gewesen. Trotz ihrer Ächtung in manchen Kreisen, besaß sie nach wie vor Unterstützung, u.a. auch von ihrem Bruder, der sich dafür eingesetzt hat, Karenin zur Scheidung zu überreden. Offenkundig hat Anna den Übergang von der Affäre in die richtige Beziehung einfach nicht verkraftet.
Tragisch ist es auch, weil in den Parallelhandlungen gezeigt wird, wie es besser geht. Nach der Abfuhr kommt Ljewin irgendwann doch mit Kitty zusammen, die beiden heiraten und bekommen ein Kind. Auch zwischen diesem Paar gibt es Diskussionen und Eifersuchtsszenen, aber ihre Liebe hält.
Ebenso die Ehe von Annas Bruder Stephan und Dolly. Wie Anna hat der Lebemann Stephan eine Affäre, die zu Beginn des Buches zum Streit mit seiner Frau Dolly führen. Die beide versöhnen sich wieder, aber die Seitensprünge gehen trotzdem weiter, wie der Leser später erfährt. Wahre Liebe gibt es zwischen den beiden nicht und Dolly will sich später aufgrund von Geldnöten scheiden lassen, wozu es aber letztlich nicht kommt.
Fazit
Manche Bücher machen einen traurig, wenn man sie liest, weil man den Figuren dabei zusehen muss, wie sie auf ihr tragisches Ende zutaumeln, das sie doch eigentlich nicht verdient haben. Anna Karenina gehört dazu. Ihr Fehler war sicher nicht die Affäre, dafür aber ihre Engstirnigkeit im Zusammenleben mit einem Mann, der alles für sie getan hat. Letzten Endes bleibt nach der Lektüre eines solchen Werkes wohl nur die Einsicht, es selbst besser zu machen.
Insgesamt war das Buch durchaus lesenswert, wenngleich ich es nicht noch mal lesen würde. Die Spannung hat sich über das ganze Buch gehalten, mal mehr, mal weniger. Inhaltlich war besonders der Anfang der knisternden Liebe zwischen Anna und Wronski sehr schön, das Ende war mir persönlich zu schwarz-weiß. Das Leben der beiden Protagonisten ist zerstört, dafür werden noch einmal viele Seiten Ljewins Familienglück gewidmet, der zu seinem Glauben gefunden hat und seinem Leben nun dem Guten widmen will.
Kleine Namenskunde
Gewöhnungsbedürftig beim Lesen waren vor allem die russischen Namen. Ein typischer russischer Name besteht aus Vorname, Patronym (= Vorname des Vaters + Endung) und Nachname. Patronyme und Nachnamen haben unterschiedliche Endungen, je nachdem, ob Mann oder Frau sie trägt. Die Titelfigur heißt vollständig Anna Arkadjewna Karenina. Ihr Patronym ist von ihrem Vater abgeleitet (der im Buch nicht erwähnt wird, aber vermutlich Arkadius heißt), der Nachname von ihrem Mann Karenin.
Tolstoi verwendet die Namen je nachdem, in welchem Umfeld die Figuren auftauchen. Bei manchen allerdings hat sich eine feste Form etabliert, so wie bei Wronski oder Ljewin nur der Nachname genannt wird, bei Anna nur der Vorname.
Besonders verwirrend wird es dann, wenn mehrere Personen den gleichen Namen tragen (Wronski und Karenin heißen beide Alexei) oder genau das nicht passiert. Ljewin wird praktisch immer als Ljewin bezeichnet, obwohl es sein Nachname ist und er eigentlich Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin heißt. Einer seiner beiden Brüder wird hingegen durchgängig als Sergei Iwanowitsch angesprochen.