Christian Tielmann: “Unsterblichkeit ist auch keine Lösung”

Das Publikum schnippte begeistert mit, schließlich sang Schiller:
“Fass mich nicht an, nur weil ich ein Klassiker bin!
Fass mich nicht an, weil ich ein Denkmal bin!
Fass mich. Halt mich. Weil ich ich bin. Und nichts mehr werde!”
Abgeschmackt, dachte Goethe.
(S. 190, Absätze von mir eingefügt)

Die besten Texte sind meines Erachtens die, die aus einer spontanen Lust am Schreiben entstehen. Und weil mich diese Lust am Schreiben sehr oft dann erfasst, wenn ich ein Buch gelesen habe, zu dem es sehr viel zu sagen gibt, erscheint heute seit langer Zeit mal wieder eine Buchbesprechung!

Der Roman, über den ich heute schreiben möchte, trägt den Titel Unsterblichkeit ist auch keine Lösung. Ein Goethe-Schiller-Desaster und ist 2019 bei dtv erschienen.¹ Geschrieben hat es Christian Tielmann, der eigentlich im Bereich der Kinder- und Jugendbuchliteratur zuhause ist und hiermit sein Romandebüt vorlegte. 

“Sie sind wieder da” heißt es auf der Rückseite des Einbandes. Im Jahr 2019² leben Goethe, inzwischen 270 Jahre zählend, und Schiller, mit seinen 260 Jahren nicht minder betagt, immer noch – in dieser Geschichte sogar leibhaftig. Cotta, der historische Verleger von Goethes und Schillers Schriften, kommt auf die Idee, Goethe und Schiller auf eine Lesereise zu schicken, um deren Image aufzubessern und den Absatz ihrer Bücher anzukurbeln. Unter dem Motto “Klassiker zum Anfassen” werden die Schriftsteller auf eine Lesereise durch Deutschland geschickt – pikanterweise entlang der Stationen von Heines Harzreise -, um sich dort vor Schulklassen, Jugendlichen und Erwachsenen zu präsentieren. Während Goethe keinerlei Lust für diese Art der Präsentation verspürt, gnadenlos beim Publikum durchfällt und ohnehin eher an den schönen Frauen in seinem Umfeld interessiert ist, gibt sich Schiller volksnah, trumpft mit neuen, zeitgemäßen Texten und Performances auf, hat aber immer wieder Probleme mit seiner Alkohol- und Tablettensucht. Begleitet werden die beiden von Saja Huggelmann, einer Buchhändlerin, an der Goethe, aber auch Schiller ein Interesse zu haben scheinen.
Nebenbei ist Goethe in einen handfesten Skandal verwickelt: Goethe, der auch in der Gegenwart noch gute Kontakte in die höchsten politischen Ämter pflegt und u. a. für den Ministerpräsidenten von Thüringen Wahlkampfauftritte absolviert, wird dabei enttarnt, wie er öffentliche Gelder missbraucht, Behördenmitarbeiter zu seinen Gunsten besticht (Goethe will immerhin einen Wintergarten an sein denkmalgeschütztes Haus bauen!) und auch nicht davor zurückschreckt, missliebige Personen und Journalisten in Misskredit zu bringen. All das kulminiert in einem furiosen Finale auf dem Brocken, wo Goethe vor hunderten von Zuschauern seinen Faust lesen soll. Letztlich kommt es aber anders als erwartet …

Bekanntermaßen bin ich ein Fan von Goethe und Schiller. Auch von Darstellungen historischer Schriftsteller in der Literatur (immerhin schreibe ich meine Doktorarbeit darüber!). Und wenn es dann zu einer Konstellation kommt, bei der historische Schriftstellerfiguren in der Gegenwart auftreten (was sehr selten der Fall ist, viel häufiger wird der Lotte in Weimar-Typ verwendet, d. h. eine realhistorische Episode nachempfunden wird), dann ist das für mich ein Kaufgrund. Leider finden sich dergleichen Texte (zu 90% Romane in der Gegenwart) meist im Unterhaltungsliteratur-Segment. Goethe und Schiller als Ermittler und Abenteurer gibt es zuhauf in jenem als trivial gescholtenen Teil des Buchmarktes. Auch Tielmanns Buch lädt zur Unterhaltung ein, wartet aber immer wieder mit (historischen) Referenzen auf Personen und Ereignisse (etwa tritt eine neuzeitliche Gruppierung namens Göttinger Sieben auf) sowie intertextuellen Anspielungen auf literarische Werke wie Werther oder Faust auf. 

Dass Goethe und Schiller noch leben – oder vielmehr, warum sie noch leben – wird zwar hin und wieder thematisiert, spielt aber keine große Rolle in der Handlung. Es wird einfach hingenommen, dass sie nie gestorben und auch nach knapp 300 Jahren noch da sind. Während Goethe sich eher in politischer Richtung engagiert, schreibt Schiller – zumeist unter Pseudonym – inzwischen weiter fleißig: “Der Rastlose”, so heißt es an einer Stelle, “hatte immer weiter produziert, Dramen, sogar Drehbücher für Kinofilme, und seit rund fünfzig Jahren hatte er begriffen, wie man Romane schrieb” (S. 128). Andere Klassiker dagegen (Heine wird immer wieder erwähnt) sind schon lange tot, wie andersherum auch Personen aus Goethes und Schillers Umfeld (Goethes Frau oder Verleger Cotta), die für die Handlung wichtig sind, in der Geschichte noch am Leben sind.

Erzählt wird die Handlung von einem heterodiegetischen (“allwissenden”) auf Goethe fokussierten Erzähler, von dem wir also auch Gedanken und mehr verwertenswerte Äußerungen erhalten. Ein paar Zitate mögen genügen, sodass sich jeder sein Bild von Goethe machen kann:

Er war Goethe. Er war Kunst und Kultur, er war ein lebendiges Denkmal, erhaben über alle Niederungen der Menschen und dennoch lebendig, so lebendig, wie man nur sein konnte. (S. 117)

Er war doch kein Privatier! Er war Goethe! Er war wandelndes deutsches Kulturdenkmal! […] Er war mindestens so schützenswert wie der Kölner Dom, die Musik Bachs und die Handschriften vom toten Kant, auf den der Schiller so stand. Eigentlich gehörte er hinter Glas ausgestellt. Ein Museum, ein Standbild, ein Archiv, all das wäre angemessen. […] Nein, nein, Thüringen konnte ruhig etwas für Goethe tun. Immerhin hatte er dem Land nicht gerade wenig gegeben. […] Und was wäre Thüringen, was wäre Deutschland ohne seine Klassiker? War nicht Goethe der unangefochtene Primus unter den wenigen Dichtern und Denkern, die sich dazuzählen lassen durften? (S. 97) 

Goethe erscheint so, wie sich ihn vermutlich viele vorstellen: Arrogant, von sich eingenommen, rein auf sich selbst und seine Bedürfnisse bezogen und immer den Frauen hinterherschauend – ein nicht unerheblicher Teil seiner Pläne kreisen darum, Schiller die mitreisende Buchhändlerin Frau Huggelmann abspenstig zu machen. Dazu kommt sein wenig freundlicher Umgang mit Eckermann (leiblich und in Form einer Eckermann-App, der er Texte diktiert), der ihm nach wie vor treu ergeben ist, seine zur Schau getragene konservative und demokratiekritische/monarchiefreundliche Haltung und die Abscheu vor dem “Pöbel”, der seine Werke ohnehin nicht verstehe. Schiller dagegen betrachtet er als Freund, der ihn als einer der wenigen Menschen verstehe (die im Werk inszenierte Verbrüderung halte ich indes für deplatziert), obgleich er zwischen Gönnen und Nicht-Gönnen von Schillers Erfolg in persönlichen und beruflichen Belangen hin und her schwankt.

Schiller wird als der populärere (wenn auch nicht der verkaufsmäßig erfolgreichere) Autor dargestellt, der einerseits weiß, was gut ankommt und wie man sich erfolgreich auf der Bühne inszeniert, und andererseits vom Publikum (und insbesondere den Frauen) geliebt wird. Zumindest er scheint dem im Titel vorausgeschickten Desaster in dieser Hinsicht zu entgehen. Allerdings ist er gesundheitlich angeschlagen, konsumiert Alkohol und Tabletten in großen Mengen, wähnt sich dem Tod nahe und scheint der Frauenwelt auch nicht ganz abgeneigt zu sein. Ein moderner Rockstar quasi.

Gleichzeitig haben sich beide der Zeit angepasst, tragen zeitgenössische Kleidung, können Auto fahren, wissen um aktuelle Trends und Diskussionen (Harry Potter wird als erfolgreicher Zauberlehrling erwähnt), kennen sich also kurzum in der Gegenwart aus. Zudem sind sie in den heutigen Sprachgepflogenheiten bewandt, weshalb auch der ein oder andere vulgäre Ausdruck nicht gescheut wird. Aus der Konfrontation des historisch Belegten und Klischeehaften mit dem Gegenwärtigen schöpft der Roman seinen Witz und seine Originalität: Immer wieder kommt es zu Momenten, in denen Goethe in Fettnäpfchen tritt, sei es bei der Wahl einer passenden Badehose oder dem Umgang mit unerwarteten Situationen auf der Bühne. Manchmal wirkt die versuchte Anpassung allerdings ein wenig zu dick aufgetragen und wenig glaubwürdig, gerade was die Dichte der benutzten Kraftausdrücke betrifft.

Goethe und Schiller so darzustellen, dass sie nicht zu reinen Klischeebildern verkommen, ist wahrlich nicht einfach. Vor allem nicht, wenn sie als Figuren in die Gegenwart versetzt werden. Tielmann ist dies meines Erachtens gut gelungen. Die Handlung, die einen Einblick in den gegenwärtigen Literaturbetrieb vermittelt, ist nachvollziehbar, greift die stets gegenwärtige Fragen nach dem Umgang mit Klassikern und ihrem Aktualitätsgrad auf (immerhin ist Tielmann Kinder- und Jugendbuchautor und wird wissen, was diese Zielgruppe interessiert) und ist damit weit mehr als nur ein weiteres Werk jenes Teils der Unterhaltungsliteratur, der auf historische Persönlichkeiten zurückgreift. Leider kommen die Interaktionen zwischen Goethe und Schiller manchmal etwas zu kurz, dabei ist es gerade die Dynamik zwischen den beiden, die oft für lustige Momente sorgt.

Ein dicker Minuspunkt kommt dem Ende zu, das ich aufgrund der Aktualität des Werkes nicht spoilern möchte, aber – so viel lässt sich sagen – misslungen ist. Im letzten Kapitel des Buches ereignet sich einerseits ein Vorfall, der dem Roman eine unpassende Wendung gibt und mehr Fragen aufwirft als zu beantworten, und andererseits werden Informationen enthüllt, die der aufgebauten Leseerwartung inklusive Figurenzeichnung grundlegend zerstören. Insgesamt wirkt das Ende eher wie ein notdürftiger Versuch, die bis dato interessante Geschichte irgendwie zu einem Ende zu führen.

Insgesamt kann ich das Buch dennoch sehr empfehlen. Mit abgeändertem Ende hätte der Roman in meinen Augen sogar durchaus Potenzial, verfilmt zu werden. 

Anmerkungen

 ¹ Christian Tielmann: Unsterblichkeit ist auch keine Lösung. Ein Goethe-Schiller-Desaster. Roman. dtv München 2019. Aus dieser Ausgabe zitiere ich in diesem Artikel.

² Der Klappentext des Buches, der auch als Werbetext auf diversen Plattformen fungiert, widerspricht dem rückseitigen Text wie auch der Geschichte selbst. Diese spielt im Jahr 2019 (Goethe selbst erwähnt immer wieder seine 270 Jahre), jener verortet die Geschichte aber im Jahr 2014 und spricht von einem 265-jährigen Goethe. Ein ähnlicher Fehler betrifft auch das Buchcover: 
Auf dem Cover befinden sich zwei Silhouetten – eine soll Goethe zeigen, eine Schiller. Ich habe lange recherchiert und meine mich durchaus etwas auszukennen, aber Schiller zeigt die gewählte Silhouette meines Erachtens nicht .

 

Und was denkst du dazu?

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.