Die Utopie: Einblick in eine literarische Gattung

Unter einer Utopie versteht man die literarische Ausgestaltung eines idealen Gesellschaftsmodells.

Die Gattungsgeschichte der Utopie beginnt mit der namensgebenden Erzäh­lung Utopia (im Original De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia, 1516) des englischen Gelehrten und Humanisten T. Morus, welche in Anknüpfung an Platons Politeia (nach 387 v. Chr.) und mit Bezug auf die zeitgenössische englische Realität des frühen 16. Jahrhunderts im Medium des Dialogs den Entwurf einer alternativen Gesell­schaft vorlegt. Morus entwickelt in einer ausführlichen Beschreibung der fiktiven Insel Utopia eine Gesellschaftsform, in der das Privateigentum zugunsten einer kollekti­vistischen, streng regulierten Gesellschaftsordnung, die subjektive und all­gemeine Inter­essen als kongruent ansieht, abgeschafft ist. Das Werk avanciert zu einem genrebildenden Modell für die euro­päische Neuzeit.

Im frühen 17. Jahrhundert entsteht eine Reihe an klassisch gewordenen Utopien, darunter J. V. Andreaes Christianopolis (1619), T. Campanellas Civitas solis (1623) und F. Bacons Nova Atlantis (1627). Wie bei der Utopia handelt es sich bei ih­nen um Raumutopien, innerhalb derer sich fiktive, räumlich geschlossene Systeme entfalten. Während Andreaes Christianopolis eine pietis­tische Variante entwirft, die Wertschätzung für die Wissenschaft zum Ausdruck bringt, entsteht in Campanellas Sonnenstaat, die wie Morus´ Utopia von der Abschaffung des Privateigentums ausgeht, eine kreisförmige Idealstadt mit einer absolu­tistischen Theo­kratie. Nova Atlantis etabliert in Re­flexion auf das natur­wissenschaftlich-technische Zeit­alter ein patriarchalisches System, in dem die Wissen­schaft die Macht im Staat über­nimmt.

Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kommt es zu einer Erweiterung und Aus­differenzierung der Gattung. Die bloße Einbettung des dargestellten Staatsideals in einen Erzählrahmen wird zunehmend als ungenügend empfunden. Infolgedessen erfährt der epi­sche Anteil der Utopie durch den Einbezug einer dynamisierenden Handlung eine Auf­wertung. In Anlehnung an die Gattung der Robinsonaden, vor allem D. Defoes proto­typischen Roman Robinson Crusoe (1719), findet zudem eine Subjektivierung der Utopie statt. J. G. Schnabels Insel Felsenburg (1731-43) verbindet auf diese Weise Defoes Kon­zept mit Motiven aus der Morus-Tradition sowie autobiographischen Erzählungen.

Unter Einfluss der Aufklärung wird im 18. Jahrhundert von Theoretikern wie J.-J. Rousseau die Symmetrie von Subjekt und Gesellschaft als Illusion enttarnt und die Polarität beider Seiten zum zentralen Pro­blem der Utopien. Als Kon­sequenz wird das vor­malige Leitideal der Utopie, die Voll­kommenheit (perfectio), vom Ideal der Vervoll­kommnung (perfectibilité) abgelöst. Der Idealzustand ist nicht länger gegenwärtig prä­sent, sondern steht am Ende des Fortschritts. Diesen Übergang von Raum- zu Zeitutopie ver­wirklicht als einer der ersten L.-S. Mercier mit seinem Roman L’An 2440. Rêve s’il en fut jamais (1771), in dem sich der Protagonist in das Paris des Jahres 2440 träumt, wel­ches alle Probleme der fiktionalen Gegenwart beseitigt zu haben scheint.

Die literarischen Utopien des 19. Jahrhunderts bauen weitgehend auf den im 18. Jahr­hundert entwickelten Formen auf, indes nimmt die Ausdifferenzierung der Genres weiter zu. Ausgehend von den neuen industriellen Produktionsweisen und deren Auswirkungen wie Klassen­auseinandersetzungen und Verelendung großer Bevölkerungsteile erfolgt eine Politisierung des Utopischen; Utopien werden vermehrt hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit geprüft. Einfluss gewinnen (früh-)sozialistische Modelle, etwa von C. Fourier (Le nouveau monde industríel et sociétaire, 1829) und E. Cabet (Voyage en Icarie, 1840), wo­hingegen die Distanzierung K. Marx´ und F. Engels´ von solchen Modellen im marxis­tischen Um­feld nur we­nige Utopien entstehen lässt. Als eine der einflussreichsten Utopien des 19. Jahrhunderts gilt E. Bellamys Looking Backward, 2000–1887 (1888), eine Zeitutopie mit Ähnlichkeiten zu Merciers Utopie.

Um 1900 ist mit H. G. Wells Roman Modern Utopia (1905), welcher Utopie und Zukunfts­roman verbindet, der vorläufige Endpunkt der Utopie erreicht. Ihr positives Ideal erscheint nunmehr als totalitäre Ordnung, was eine Transformation der Tradition zur Fol­ge hat: Utopien werden zu Schreck- und Warnbildern umfunktioniert. Auf­bauend auf dem Modell der Zeitutopie rücken Anti-Utopien bzw. Dystopien das In­dividuum in den Vor­dergrund, das sich dem totalitären Übergriff der durch Ordnungs­terror charakteri­sierten, bereits in der Gegenwart der Fiktion realen Welt ausgesetzt sieht. Ro­mane wie A. Huxleys Brave New World (1932) oder G. Orwells 1984 (1949) thematisieren so den grund­legenden Konflikt zwischen dem utopischen System und dem einzelnen Subjekt. Positive Ge­genbilder werden in den dystopischen Welten eher in der Vergangenheit ge­sehen.
Erst nach 1945 kommt es zu einer Wiederbelebung der „positiven“ Utopien, welche sich mit den neuen Problemfeldern der Ökologie (so etwa E. Callenbachs Ecotopia, 1975) und der Kon­sumgesellschaft beschäftigen. Im Rahmen der Emanzipationsbewegungen ent­steht in den 1970er und 1980er Jahren die fe­ministische Utopie, die überwiegend aus dem Tradi­tionszusammenhang der Science-Fiction-Literatur stammt und Konzepte der fe­ministischen Theorie­bildung einbezieht (U. Le Guin: The Left Hand of Darkness, 1969). Zeit­genössische Utopien zeichnen sich außerdem durch Utopiesatiren (A. Schmidt: Die Gelehrtenrepublik, 1957) und Gattungsmischungen aus (H. Hesse: Das Glasperlenspiel, 1943; H. Kasack: Die Stadt hinter dem Strom, 1947), die die Dynamik der Gattung kennt­lich machen. Seit den späten 1980ern ist die Produktion von Utopien zurückgegangen.

Literaturangaben:
“Utopie”. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 740-750.
Hans-Edwin Friedrich: “Utopie”. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar [u.a.]. 3 Bde.
Berlin 1997-2003, S. 739-743.

Und was denkst du dazu?

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.