E. Lockhart: “Solange wir lügen”

Heute gibt es mal wieder eine Buchrezension von mir. Der Roman entstammt als Jugendbuch eigentlich nicht meinem Lieblingsgenre, aber Toni hat mich auf ihn aufmerksam gemacht (und fand ihn selbst eher mäßig), weshalb ich einmal einen Blick hineinwerfen wollte.

„Unglaublich spannend, atemberaubend schön und hochintelligent. Solange wir lügen ist absolut unvergesslich. – John Green, Autor von Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ ist auf der Rückseite zu lesen. Ob all diese Superlative wirklich angebracht sind, könnt ihr im Folgenden nachlesen.

Allgemeines

Solange wir lügen wurde von E. Lockhart verfasst und erschien 2014 unter dem Originaltitel „We were liars“ bei Delacorte Press, New York. Die deutsche Ausgabe erschien 2015 im Ravensburger Verlag.

Der Klappentext lautet:
Eine wohlhabende und angesehene Familie.
Eine Privatinsel vor der Küste von Massachusetts.
Ein Mädchen ohne Erinnerungen.
Vier Jugendliche, deren Freundschaft in einer Katastrophe endet.
Ein Unfall. Ein schreckliches Geheimnis.
Nichts als Lügen.
Wahre Liebe.
Die Wahrheit.

Gegliedert ist das Buch in fünf Abschnitte, die wiederum in kleinere Kapitel unterteilt sind.

Inhalt

Jeden Sommer kommt die Großfamilie Sinclair auf der Insel Beechwood vor Massachusetts zusammen. Beechwood gehört dem reichen Kopf der Familie, Großvater Harris Sinclair, der dort vier Anwesen erbaut hat: Eines für sich und die anderen für seine drei Töchter und deren Kinder. Unter ihnen sind die Jugendlichen Cadence, die Protagonistin, ihre gleichaltrigen Cousins Mirren und Johnny sowie Gat, der als einziger nicht zur Familie gehört. Sie nennen sich selbst „die Lügner“ und verbringen viel Zeit zusammen. Später verlieben sich Cadence und Gat sogar ineinander, gleichwohl letzterer bereits eine Freundin hat.
Im „Sommer 15“ (d.h. in jenem Sommer, als die Protagonisten 15 Jahre alt sind) geschieht ein Unfall, infolgedessen Cadence ein Schädel-Hirn-Trauma erleidet. Fortan wird sie von starken Kopfschmerzen geplagt, sie bleibt in der Schule sitzen und verliert zunehmend den Kontakt zu anderen. An den Unfall selbst erinnert sie sich nicht mehr. Da keiner sie mit der Wahrheit belasten möchte, liegt es an ihr, herauszufinden, was geschehen ist.
Zwei Jahre später kehrt Cadence mit ihrer Mutter nach Beechwood zurück, wo sie feststellen muss, dass das großväterliche Anwesen gegen ein modernes ausgetauscht wurde und eines der anderen Häuser nicht mehr bewohnt wird. Auch „die Lügner“ sind wieder da, die sich jedoch merkwürdig verhalten und ihr ebenfalls nichts vom Unfall erzählen wollen. Nach und nach erhält Cadence ihr Gedächtnis wieder und wird konfrontiert mit der schrecklichen Wahrheit über die Machenschaften ihrer Familie, über den Unfall und das Schicksal ihrer Freunde.

Meine Eindrücke zu Figuren, Handlung und Schreibstil

Zunächst muss ich sagen, dass ich nicht ganz unvorbereitet in die Lektüre gegangen bin. Durch Toni kannte ich das Ende schon (was die Spannung natürlich genommen hat, aber vielleicht auch für das Verständnis gar nicht schlecht war) und wusste daher an der ein oder anderen Stelle, was dahinter steckt.

Im Genre Jugendbuch kenne ich mich nicht gut genug aus, um große Vergleiche anzustellen. Die „Lügner“ tun all das, was man wohl typischerweise Jugendlichen zuschreibt, es kommt zu Eltern-Kind-Konflikten und es gibt mit Cadence und Gat ein Liebespaar.
(Interessanterweise ist mir aufgefallen, dass in vielen Büchern mit einer jungen Protagonistin, selbige keine Geschwister, aber dafür ein ausgeprägtes Verhältnis zur Mutter hat. Hier ist es genauso.)

John Greens Aussage kann ich persönlich leider nicht zustimmen. Das Buch war für mich weder „hochintelligent“ noch „atemberaubend schön“. Zum einen waren mir die Hauptcharaktere (Cadence, Gat, Mirren, Johnny) zu blass. Es gibt nichts, was sie über ihr Dasein als Jugendliche hinaus auszeichnet. Die Liebe zwischen Cadence und Gat war zwar schön und das Ende berührend, aber nicht hervorstechend. Um mal den Vergleich zu Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter zu ziehen: Dort haben wir auch zwei sich liebende Jugendliche, Hazel und Augustus, aber ihre humorvolle, sarkastische Art, miteinander umzugehen, macht sie einzigartig. Cadence und Gat fehlt solch ein Alleinstellungsmerkmal.
Die Story war in Ordnung, wenngleich sie eine entscheidende Schwäche am Ende aufweist (dazu mehr in der Spoiler-Zone).
Der Schreibstil ist dem Genre angebracht, auch wenn es die Autorin mit den Metaphern öfter mal etwas übertrieben hat (Cadence wird erschossen, schmilzt zusammen oder fängt an zu bluten).
Trotzdem halte ich Solange wir lügen für ein solides Jugendbuch, welches dank Cadences langsames Erinnern an ihren Unfall durchaus Spannung erzeugt und ganz nebenbei noch Kritik am Verhalten dekadenter Familien übt (auch dazu gleich mehr).

Da das Buch noch relativ neu ist und es manche womöglich selbst lesen wollen, gibt es ab hier eine Spoiler-Zone, in der ich etwas genauer auf das Ende, die Schwächen des Buches und die Familiensituation eingehe.

Spoiler 1: Scheine sind dicker als Blut

Bereits die erste Seite gibt einen Hinweis darauf, worauf sich der Leser einstellen kann: Dort befindet sich nämlich ein Stammbaum der Familie Sinclair. Diese Familie, wie es Cadence auf den folgenden Seiten beschreibt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie reich ist (und diesen Reichtum auch zur Schau stellt) und dass sie es für eine Schwäche hält, Gefühle zuzulassen.

Ganz an der Spitze steht Großvater Sinclair, auf den der Wohlstand der Familie zurückgeht. Er ist der Klischee-Reiche schlechthin: Eingebildet, traditionsgebunden, besitzt ein ausgesprochenes Elitedenken und lebt praktisch nur in der Vergangenheit.

Gat akzeptiert er nicht, weil er dunkelhäutig ist. Seine Töchter ächtet er dafür, dass ihre Ehen gescheitert sind. Auf seine Enkelkinder ist er anfänglich stolz, besonders auf die Erstgeborene Cadence. Sie alle sollen einmal auf eine Elite-Uni gehen. Er will etwas stiften, nur damit sein Name über einem Teil der Uni auftaucht. Sein Lebensmotto ist: „Akzeptiere kein Nein.“

Den Preis für die unsympathischste Figur geht aber nicht an ihn allein. Im Laufe des Buches stellt sich heraus, dass die Familie gar nicht so reich ist, wie sie tut. Keine der drei Töchter hat es zu etwas gebracht, sie leben vom Sparbuch des Vaters.

Nach dem Tod von Sinclairs Frau beginnt der Streit um das Erbe. Dabei ist jedes Mittel recht. Intrigen werden geschmiedet, Leute beeinflusst und die eigenen Kinder instrumentalisiert, die sich  gegeneinander ausspielen sollen.
Um ihre Ziele zu erreichen, setzen die Mütter sie unter Druck und nehmen ihnen notfalls ihre Sachen weg. Cadence Mutter droht, dass sie Gat nie wieder sieht, wenn sie sich bei ihrem Großvater nicht einschmeichelt. Rabenmutter ist gar kein Ausdruck mehr für solch ein Verhalten.

Cadence und die “Lügner” leiden unter diesen Zuständen. Sie verbrennen das großväterliche Anwesen, das sie für sie das Symbol der familiären Dekadenz halten, im Glauben daran, dass sich danach die Familie verträgt. Ein naiver Glaube.

Traurigerweise ist das alles keine reine Fiktion. Es gibt durchaus Familien, und das müssen nicht einmal besonders wohlhabende sein, in denen der Schein nach außen alles ist, wie heftig es im Innern auch krachen mag; in denen Großeltern/Eltern ihr Selbstbewusstsein mit den Taten ihrer Nachkommen stärken (die sie gar nicht geleistet haben), aber gleichzeitig nicht akzeptieren können, dass sich Zeiten ändern; in denen die Kinder für fragwürdige Aktionen herhalten müssen. Und es muss natürlich eine Elite-Uni sein, sonst ist man ja niemand.
Man kann nur froh sein, wenn man in einer Familie aufwächst, in der Moral und Liebe nicht von Geld, Stolz und dem Schein nach außen überragt werden.

Spoiler 2: Zu viele ungeklärte Fragen

Die größte Schwäche des Romans (die ihm leider auch etwas den Reiz nimmt) betrifft den „Zustand“ der “Lügner”. Man erfährt gegen Ende, dass sie im Feuer umgekommen sind. Trotzdem sind sie wieder auf der Insel, Cadence kann sie sehen und anfassen. Anfänglich dachte ich, dass sie sich deren Anwesenheit einbildet, aber dem ist nicht so, da sie reale Sachen hinterlassen (so etwa einen Briefumschlag mit Rosen).
Am Ende verschwinden sie jedoch endgültig, sie sind „müde“ und können scheinbar nicht mehr in dieser Art Zwischenstadium verbleiben. Wenn man schon mit etwas Überirdischem hantiert, hätte man wenigstens noch einige Fragen beantworten können. So wird zum Beispiel nicht angesprochen, dass es auf einmal Geister gibt. Cadence wundert sich nicht mal darüber, als sie es erfährt. Und wenn sie tatsächlich Geister sind, können sie dann auch von anderen Personen gesehen werden? Wie kann es sein, dass sie wie lebendige Menschen essen, trinken, etwas berühren können etc.? Der Unfall ist zwei Jahre her. Waren sie die ganze Zeit in diesem Zwischenstadium? Wenn ja, wo waren sie? Auf der Insel? Warum haben sie sich Cadence nicht vorher gezeigt? Wie sind sie nach ihrem Tod überhaupt in diesen Geisterstatus gelangt?
Man sieht, so vieles ist ungeklärt. Der Zustand der “Lügner” istt das Spannungselement des Buches und wird am Ende leider einfach stehen gelassen, als wäre es normal, plötzlich Geistern zu begegnen. Ich hätte es besser gefunden, wenn Cadence sich alles nur eingebildet hätte. Das Buch selbst bietet ja schon die besten Anlagen dafür: Die Tabletten, die sie gegen ihre Kopfschmerzen nimmt, die Tatsache, dass die „Lügner“ sich von den Familien fernhalten usw. Die Tragik der Handlung hätte dies um ein Vielfaches erhöht.

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