Epochenüberblick 10: Expressionismus (1910-1925) – Angst und Ausweglosigkeit
Ein Nebel hat die Welt so weich zerstört,
Blutlose Bäume lösen sich in Rauch.
Und Schatten schweben, wo man Schreie hört.
Brennende Biester schwinden hin wie Rauch
[…]
Wir aber, die, verrucht, zum Tode taugen,
Zerschreiten knirschend diese wüste Pracht.
Und stechen stumm die weißen Elendsaugen
Wie Spieße in die aufgeschwollne Nacht.
– Alfred Lichtenstein: Nebel (1913; Auszug)
Der Expressionismus ist eine Literaturepoche, die die Strömungen des Naturalismus sowie deren Gegenströmung des Ästhetizismus/Impressionismus abgelöst hat. Es geht nicht mehr darum, die Welt möglichst genau darzustellen und genauso wenig sie verklärend zu betrachten. Im Gegenteil, das Hässliche und Unangenehme sollte ausgedrückt werden.
Ausgeprägt hat sich der Expressionismus in einer politisch und gesellschaftlich prekären Zeit. Die Epoche umfasst sowohl die Jahre vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg als auch die erste Hälfte der Weimarer Republik.
Die Jahre bis 1914 waren geprägt von Spannungen in Europa, angetrieben durch aggressive Aufrüstung (v.a. von Seiten des Kaiserreichs), einer Bündnispolitik, die den Kontinent immer weiter entzweite, sowie einer national aufgeheizten Stimmung. Die Menschen hatten Angst vor einem Krieg, der 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien tatsächlich ausbrach.
Ein bekannter Autor dieser Phase war Alfred Lichtenstein (1889-1914). In seinem Gedicht Doch kommt ein Krieg (1914) zeigt er mit elliptischen Sätzen sowie kraftvolles Ausdrücken die Grausamkeit eines Krieges:
Doch kommt ein Krieg. Zu lange war schon Frieden.
Dann ist der Spaß vorbei. Trompeten kreischen
Dir tief ins Herz. Und alle Nächte brennen.
Du frierst in Zelten. Dir ist heiß. Du hungerst.
Ertrinkst. Zerknallst. Verblutest. Äcker röcheln.
Kirchtürme stürzen. Fernen sind in Flammen.
Die Winde zucken. Große Städte krachen.
Am Horizont steht der Kanonendonner.
Rings aus den Hügeln steigt ein weißer Dampf.
Und dir zu Häupten platzen die Granaten.
Alfred Lichtenstein selbst fiel wenige Wochen nach Beginn des Krieges im Kampf.
Ein anderer Autor, der sich mit den Kriegsgräulen auseinandergesetzt hat, war der Österreicher Georg Trakl (1887-1914). Die Eindrücke der hilflosen, sterbenden Menschen, die er bei der Schlacht in Grodek im Lazarett erlebt und im gleichnamigen Gedicht verarbeitet hat, ließen ihn nicht mehr los, sodass er sich kurz darauf das Leben nahm.
Allgemein wird Literatur von den Autoren der Zeit als Aufschrei verstanden. Sie soll nicht schön sein bzw. geschönt werden. Bisherige ästhetischen Darstellungsarten werden verworfen, man spricht auch von einer Zerstörung der Form. Vielfach wird auf Reime und Rhythmus verzichtet, dafür gewinnen Klangfiguren und Ellipsen an Bedeutung.
Ein Autor, der sich diese Formzerstörung besonders zu eigen gemacht hat, war Gottfried Benn (1886-1956). Benn arbeitete zugleich auch Arzt und behandelte in seinen Gedichten nicht selten medizinische Themen.
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.Als ich von der Brust aus
unter der Haut mit einem langen Messer
Zungen und Gaumen herausschnitt
muß ich sie angestoßen haben, den sie glitt
in das nebenliegende Hirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhe
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
– Morgue I: Kleine Aster (1912)
In seiner Lyrik mischt Benn häufig Schönes (hier die Blume) mit Abstoßendem (dem Sezieren des Toten), weshalb bei ihm (aber auch bei anderen) oft von einer Ästhetik des Hässlichen gesprochen wird.
Gedichte waren die Form schlechthin der Zeit. Eine sehr bekannte Lyrikzusammenstellung wurde 1919 unter dem Titel Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus (1885-1975) herausgegeben. Im Vorwort zu diesem Band erklärte dieser, dass Expressionismus (einer der wenigen Epochen, die bereits zu ihrer Zeit ihren Namen erhalten hat) als politische Dichtung zu verstehen sei. Das zentrale Thema ist für ihn der Zustand der Menschheit, der als unglücklich angesehen wird und deshalb verändert werden soll. Die Menschen wollen handeln und verändern, müssen aber einsehen, dass sie nichts tun können, weshalb sie sich gequält und ausgeliefert fühlen.
Des Weiteren erreichte der technische Fortschritt zur Zeit des Expressionismus einen Höhepunkt: Autos und Straßenbahnen lösten die Kutschen ab, Filme wurden zum neuen Freizeitvergnügen und Städte schossen in die Höhe. Besonders dem Motiv der Stadt widmeten sich die Lyriker dieser Zeit.
So schrieb Lichtenstein in seinem Gedicht Städter von 1914:
Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, wo die Blicke eng ausladen
Und Begierde ineinander ragt.Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:Und wie stumm in abgeschlossner Höhle
Unberührt und ungeschaut
Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.
Das Leben in der Stadt wird als eng und bedrängend empfunden. Der individuelle Mensch geht in der anonymen Masse verloren, er hat keine Privatsphäre mehr und fühlt sich einsam.
Als die erste Phase der Weimarer Republik zu Ende ging, endete auch der Expressionismus als Epoche. Autoren wie E.M. Remarque (1898-1970) oder A. Döblin (1878-1957) nehmen sich in ihren Romanen der Themen Krieg und Großstadt an, bis schließlich der Nationalsozialismus über Deutschland rollt.
Hin und wieder wird auch Kafka (1883-1924) dem Expressionismus zugeordnet, vermutlich weil er mit seiner Lebensspanne genau in diese Zeit passt und seine Werke oftmals als verwirrend und düster gelten. Zwar schildert er in in vielen Büchern das Leben eines Menschen, der sich in einem ausweglosen Situation befindet und seinem Ende entgegentaumelt, aber das allein macht ihm noch nicht zum Expressionisten – zumal er mit keinem der Expressionisten in Kontakt stand und keine Gedichte verfasst hat.
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