Larissa ist tot
Ein Alptraum weckt mich. Die Bilder meiner am Boden zuckenden, sterbenden kleinen Schwester Valentina verfolgen mich, wenn ich die Augen schließe. Um die dunklen Gestalten zu vertreiben, stecke ich mir den noch funktionierenden rechten Kopfhörer ins Ohr und höre Blasphemy von Bring Me The Horizon. Das ist noch nicht genug, also stelle ich den Flugzeugmodus ab und surfe ein bisschen auf Facebook. Ein Freund von mir hat einen anderen Freund in einem Video getaggt, das sich darüber beschwert, wenn Leute in Whatsapp nicht antworten. Ich bin amüsiert, denn der getaggte Freund antwortet auch mir meist tagelang nicht oder sogar gar nicht. Mein Internet ist aber leider zu schlecht, um das Video anzusehen. Beim Versuch geht die Musik aus.
Als ich auf den Startbildschirm zurückkehre, sehe ich dass ich eine eMail habe. Sie ist von Amazon und besagt, ein bestelltes Buch sei nicht angekommen und man habe mir das Geld zurückerstattet. Verwirrt öffne ich Whatsapp, um bei Valentina genauer nachzuhaken, da diese gesagt hatte, das Buch liege bei ihr zu Hause. Drei neue Nachrichten. Valentina stimmt mir zu, dass wir wegen der Gilmore-Girls-Fortsetzung auf Netflix kein Leben mehr haben werden. Jules schreibt mir: „Weiß nicht, ob X Dir auch geschrieben hat. Larissa ist tot.“
Nein, X hat mir nicht geschrieben. „Was?“ Er antwortet nicht, also setze ich ein „????“ dazu. Die vier Minuten, bis seine Erklärung endlich kommt, erscheinen mir ewig.
„Ich weiß grad auch nicht viel, aber sie ist wohl im Februar von Alkohol umgekippt und dann erfroren. Im März war die Beerdigung.“
Ich weiß nicht, was ich sagen oder denken soll. „Krass.“ Ich weiß grad auch nicht viel. Immer und immer wieder lese ich die Nachricht, als könnte sie mir mehr über die Umstände verraten. Ich versuche mir ihren Tod bildlich vorzustellen. Meine Fingernägel bohren sich in meinen Unterarm. Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, dass ich immer noch in meinem Alptraum gefangen bin. Mein Blick schweift durch das Zimmer, bleibt am Kondenswasser an den Scheiben hängen. Draußen peitscht der Regen gegen das Fenster. Ich überprüfe, ob sie alles real anfühlt. Doch das geht nicht. Alles ist so irreal und realer denn je zugleich.
Februar, März. Das war vor über einem Monat. Warum hat mir niemand Bescheid gesagt? Warum schreibt X nur Jules? Ich kannte Larissa viel länger. Sie war eine Zeit lang meine beste Freundin. Ich kannte sie sogar länger als X. Ich hatte ein Recht darauf, es zu wissen. Warum wurde ich vergessen?
Andererseits hatte ich schon seit über eineinhalb Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr. Seit sie ihre Beziehung mit X beendet hat, haben wir uns nur noch selten getroffen. Irgendwann gar nicht mehr. Ich habe ihr mehrmals über Whatsapp und Facebook geschrieben, weil ich eigentlich noch an einer Freundschaft interessiert war, aber sie hat mir nie geantwortet. Nach dem fünften Mal habe ich aufgegeben. Vielleicht will sie einfach ein neues Leben anfangen und nichts mehr mit mir zu tun haben. Wollte.
Wieder lese ich die Nachricht und stelle mir vor, dass sie jetzt nicht mehr da ist. Ich bitte X in einer Nachricht auf Facebook um mehr Informationen. Er antwortet nicht.
Dann kommen die komischen Fragen in meinen Kopf.
Wie geht es ihrer Familie damit? Sie hatte immer Probleme mit ihnen, dennoch hielt sie Kontakt. Macht sich ihre Mutter Vorwürfe, dass sie nicht gut genug zu Larissa war?
Sie war ein- oder zweimal wegen Suizidalität in einer psychiatrischen Klinik. Das war, bevor wir nach langer Zeit wieder Kontakt hatten. Ich wollte sie nicht damit bedrängen und habe nicht nach den Gründen gefragt. Jetzt wünschte ich, sie hätte sich umgebracht, anstatt sich zu betrinken und zu erfrieren. Dann wäre es wenigstens ihre Entscheidung gewesen, freiwillig. Aber sie wollte doch leben. Sie wollte an diesem Abend nicht sterben.
Wo sie jetzt wohl ist? Wandert sie noch als Geist durch diese Welt? Wenn ja, bereut sie es, so viel getrunken zu haben? Wünscht sie sich, sie könnte das alles rückgängig machen? Ich muss ein mein zuletzt geschriebenes Buch denken, in dem ein Charakter mehrmals behauptet hat, Alkohol zerstöre Leben. Er hatte Recht.
Was hat sie in den letzten Stunden vor ihrem Tod gedacht? Hat sie auch nur einen Gedanken an den Tod verloren? Wie konnte das überhaupt passieren? Warum hat ihr niemand geholfen? Warum hat man sie in diesem alkoholisierten Zustand im Winter alleine nach Hause gehen lassen? Machen ihre Freunde sich deswegen Vorwürfe?
So viele Fragen, keine Antworten. X hat immer noch nicht geantwortet. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich kann nicht schlafen. Musik hören will ich nicht, weil ich nicht Larissas Tod mit der Musik assoziieren will. Vielleicht ist es dafür auch schon zu spät. Zum Lesen bin ich zu müde. Facebook hat mir auch nichts mehr zu sagen. Letztendlich entschließe ich mich, doch noch zu schlafen.
Als ich die Augen schließe, geistern mir Bilder und Gedanken durch den Kopf. Erinnerungsfetzen an gemeinsame Erlebnisse. Ich frage mich, ob die Nachricht über Larissas Tod wirklich in meinem Gehirn angekommen ist oder ob das erst der Fall sein wird, wenn ich vor Larissas Grab stehe. Ich mache eine mentale Notiz, X morgen nach dem Ort ihres Grabs zu fragen und mir auf dem Handy eine Erinnerung für den Tag nach meiner Ankunft in Deutschland zu setzen. Larissas Grab zu besuchen soll das erste sein, was ich in Deutschland mache.
Ich nehme meine Reaktion auf Larissas Tod seltsam distanziert wahr und weiß jetzt schon, dass ich morgen früh alles aufschreiben muss. Irgendwann schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen ist Larissa immer noch tot. X hat mir immer noch nicht geantwortet. Ich will Antworten. Anstatt dessen schreibe ich.
Update: Sie ist wohl abends alleine rausgegangen und wurde am nächsten morgen von einer Fußgängerin tot aufgefunden. Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie 4,0 Promille. Die Gründe für ihr Verschwinden und ihren übermäßigen Alkoholkonsum sind unbekannt, sie neigte jedoch in den letzten Monaten sehr dazu, ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken.