Die “guten alten Zeiten” – Von der Verklärung der Vergangenheit
„Wie war es früher so schön! Früher war alles besser! Die guten, alten Zeiten!“ Wer kennt diesen Satz nicht? Bestimmt hat ihn jeder schon einmal geäußert. Warum? Weil wir ausdrücken wollen, dass wir in irgendeiner Weise unzufrieden mit der jetzigen Situation sind. Vielleicht auch, weil wir uns gerne zurückerinnern oder die „alten Zeiten“ wiederhaben wollen.
Wer hat nicht schon mal davon geträumt, eine Zeitreise zu machen? Aber wirklich damals leben?
Wir denken so oft retroperspektiv – verständlich, denn in die Zukunft können wir nicht sehen. Wir können immer nur Mutmaßungen anstellen. Und wenn wir einmal an Vergangenes denken, neigen wir schnell dazu, es zu verklären. Nicht nur Ereignisse, auch Personen sind davon betroffen. In letzter Zeit lese ich häufig unter Videos über Donald Trump von (mutmaßlich) amerikanischen Usern, dass sie sich – über sich selbst wundernd – Bush als Präsident zurückwünschen. Und Bush hat immerhin den Irak-Krieg begonnen! Ähnliches bei Obama. Wann immer er etwas auf Twitter schreibt, kann man völlig unabhängig vom Inhalt darunter lesen, wie viele sich ihn zurückwünschen. Das mag alles berechtigt sein, im Vergleich zu Trump gibt es mehr genug Personen, die mehr Moral, Intelligenz und Benehmen aufweisen. Man vergisst nur schnell, dass diese Personen keine tadellosen Heilsbringer waren.
Manche Literaten, die heutzutage als „Dichterfürsten“ oder in ähnlicher Weise beschrieben werden, waren auch „nur“ Menschen mit Fehlern, Eigenheiten und schlechten Seiten, die uns heutzutage aber nicht wirklich präsent sind.
Auch an mir merke ich dieses Verklären, gleichwohl ich noch nicht so alt bin, um sehr viele Erfahrungen gesammelt zu haben. Personen, die mich in irgendeiner Weise gestört haben, finde ich im Nachhinein gar nicht mehr so schlimm. Die schlechten Eigenschaften blende ich zugunsten des Gesamteindrucks einfach aus. Bei Ereignissen, die ich, während ich sie erlebt habe, als anstrengend oder in anderer Weise schmerzhaft empfunden habe, denke ich hinterher „Ach, es war doch gar nicht so schlimm. Es war insgesamt ein schönes Ereignis.“
Einmal sagte uns eine Dozentin, dass man einen Gedanken beim Neuaufrufen jedes Mal verändert, bis man irgendwann ein abgeschliffenes positives oder schlechtes Bild erhält. Ich habe keine Statistiken zur Hand, um das nachzuweisen, aber ich kann es mir gut vorstellen. So wird der Schriftsteller eben irgendwann zum Dichterfürst. Der Politiker zum Held.
Aber muss das wirklich sein? Ist es im Gegenteil nicht viel effektiver, zu versuchen, aus jedem Tag einen schönen zu machen, einen, an den man sich erinnert, anstatt ewig im Gestrigen zu schwelgen?
Abgesehen davon hat jede Zeit hat mit ihren Problemen zu kämpfen: Heute? Rechtspopulismus, Altersarmut, marode Infrastrukturen, Umweltprobleme … Früher? Krieg (und all seine Folgen), schlechte Versorgung, fehlende Freiheiten in allen Bereichen, fehlende Bildungsmöglichkeiten … Je nachdem, wie weit man zurückgeht, lässt sich hier eine Reihe von Ereignissen aufzählen.
Trotzdem können wir sagen, dass unsere Zeit doch relativ angenehm zum Leben ist (in unseren Breitengraden wohlgemerkt).
Es ist wichtig, dass man Vergangenes nicht vergisst und aus der Vergangenheit lernt, aber: Es hat sich noch kein aktuelles Problem gelöst, indem man sich in Vergangenes gestürzt hat. Letztlich fährt man viel besser mit der Strategie, den Moment auszukosten und ihn vielleicht sogar langfristig für sich zu nutzen. Das hat auch schon unser “Dichterfürst” erkannt. Goethe schrieb in einem heute völlig unbekannten Text am Ende seines Lebens:
„Ihr seid nicht gefördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts wert, und wenn ihr noch so viel Geschick und Talent dabei aufopfert. Man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe sich bei Gelegenheiten, denn da beweist sich’s im Augenblick, ob wir lebendig sind, und bei späterer Betrachtung, ob wir lebendig waren.“